Etwas das man sehr oft liest ist die Aussage: „Autisten sind doch unsozial!“ Das dieser Gedanke anscheinend sehr in den Hinterköpfen der Menschen verankert ist, bzw. sozial sein einen hohen Stellenwert in der Gesellschaft zu haben scheint, merkt man als Autist an den Reaktionen der Umwelt auf das eigene Verhalten. Eltern von autistischen Kindern bekommen dieses „Sozial“ glaube ich noch viel mehr vorgehalten. Ich möchte gar nicht wissen wie oft sie einen „strafenden Blick“ oder gar einen Kommentar wie „Erziehen Sie mal ihr Kind!“ zu hören bekommen.

Aber sind Autisten wirklich unsozial? Warum werden sie so empfunden und steckt da böser Wille dahinter?

Ein großes Wort

Das Wort sozial an sich kommt vom lateinischen socius und bedeutet erst einmal nicht mehr als „gemeinsam, verbündet bzw. verbunden“. Sozial ist man also wenn man etwas gemeinsam macht. Sozial ist man auch, wenn man sich mit anderen verbündet. Hier knackt es bei mir schon wieder: Man kann sich nämlich auch prima gegen jemanden verbünden. Ist man dann nun sozial wie im Wortsinn oder doch eher unsozial weil man unter Umständen unredliches ausheckt? Hier kann man schon erkennen: Sozial ist immer eine Sache des Standpunktes. So gesehen ist es gar nichts ungewöhnliches auch einmal unsozial zu sein.

Aber wenden wir uns lieber wieder der Wortbedeutung bzw. dem was die Menschen allgemein unter sozial verstehen zu. Es geht hier, und ich hoffe da entspreche ich dem gesellschaftlichen Konsens, um das zwischenmenschliche unter- und miteinander und das Zusammenleben in einer Gesellschaft. Und hier kommt es dann wohl immer auf die einzelne Person und deren Betrachtungsweise an was nun sozial ist und was nicht.

Wenn Sozial zu komplex wird

Schaut man sich nun an, welche Erwartungen, Standards und vor allem ungeschriebenen Regeln auf uns im zwischenmenschlichen Umgang erwarten, ist es doch kein Wunder, wenn man sich auch mal vermeintlich unsozial verhält. Die Standards kann man noch erlernen und das wird wohl auch jeder, egal ob Autist oder nicht, im Laufe seines Lebens und im Rahmen der Erziehung machen und machen müssen. Alleine dieses erwartete Standardverhalten ist aber schon so komplex, dass es wohl kein Werk in der Literatur geben wird in dem man das alles nachlesen kann. Es handelt sich hier wohl wirklich um einen Fall des lebenslangen Lernens. Und spätestens wenn man in seinem sozialen Umfeld sicher im Umgang mit eben diesen Standards ist, kommen soziale Veränderungen im Leben oder einfach nur ein Urlaub in einen anderen Kulturkreis dazwischen: Und schon kann und muss man wieder etwas zu seinen Standards dazulernen. Das kann ja auch Spaß machen!

Schwieriger wird es schon bei den Erwartungen die an einen gestellt werden. Ich denke hier gibt es schon die ersten Probleme für alle Menschen: Es wird, und je exklusiv sozialer sich das Umfeld gibt, das Paket an erwartetem Verhalten unheimlich komplex und auch verworren. Was die einen mit der Erziehung mitbekommen haben kann für andere schon eine Straße voller Fettnäpfchen sein in die man natürlich alle und der Reihe nach hineintritt. Woher soll man denn auch wissen was jemand stillschweigend erwartet? Hellsehen kann wohl kaum einer von uns.

Das bringt mich dann schon zu den ungeschriebenen Regeln des zwischenmenschlichen Miteinanders. Es scheint einen ganzen Haufen Regeln zu geben über die eigentlich niemand redet weil es doch peinlich ist wenn man sie nicht kennt. Im gleichen Atemzug wird dann aber von allen erwartet, dass diese Regeln bekannt sind. Woher wissen wenn nicht durch Fragen und Lernen?

Ich denke man kann eines schon ganz gut erkennen: Soziales Verhalten ist einerseits extrem komplex und nicht immer klar definiert. Zum anderen betrifft die Problematik, da auch mal rauszufallen, jeden Menschen. Autismus macht da keinen Unterschied, er macht es uns Autisten nur manchmal noch etwas schwerer.

Besonders schwer wird es übrigens dann, wenn das soziale Verhalten nur um der Erwartung Willen und nicht des Sinnes wegen praktiziert wird. Gibt es nicht? Doch! Und zwar täglich, ständig und dauerhaft: Small Talk ist ein Beispiel dafür. Es werden soziale Kontakte „gepflegt“ und das geschieht mit Kommunikation deren Inhalt austauschbar und eigentlich egal ist. Oftmals fehlt sogar das eigentliche Interesse an den Gesprächsinhalten. Glauben Sie nicht? Dann überlegen Sie doch mal wie oft sie an einem normalen Tag gefragt werden wie es ihnen geht und wie viele Menschen es wirklich interessiert. Eigentlich möchte nämlich keiner der diese Frage stellt die Antwort „schlecht“ hören. In der Regel ist eine solche Antwort der Small Talk Killer schlechthin. Probieren Sie es mal aus wenn sie es sich trauen!

Sozial oder Unsozial?

Sind Autisten nun wirklich unsozial? Ich denke definitiv nicht! Gegen Regeln zu verstoßen, die man nicht in voller Gänze kennen kann und zum anderen mühsam und bewusst erlernen muss ist nichts Schlimmes. Zumindest nichts was einem zu einem unsozialen Wesen macht. Schließlich geschehen diese Regelbrüche nicht um sich bewusst gegen andere Menschen gerichtet zu verhalten, sondern weil man es unter Umständen einfach nicht weiß. Einen Autisten dann als unsozial abzustempeln weil er, gegen die eigenen Erwartungen an das soziale Miteinander verstoßen hat, ist kurzsichtig und ungerecht. Das Problem ist doch schlichtweg: wenn gegen Regeln, die einem selbst glasklar sind, verstoßen wird, geht man immer von zwei Annahmen aus:

Zum einen kennt der andere diese Regeln auch. Zum anderen verstößt er, eben weil er die Regeln kennt, bewusst, gewollt und provokant dagegen. So ist es kein Wunder, wenn Autisten schnell als unerzogen abgestempelt werden. Man sieht ihnen die Behinderung Autismus im Normalfall ja auch nicht an.

Ich möchte ein kleines Beispiel dafür bringen das nichtautistischen Menschen helfen soll zu verstehen wie schwer es sein kann, sich in einer sozialen Umwelt zu bewegen in der viele Regeln, besonders im sozialen Umgang miteinander, nicht klar definiert und umrissen sind:

Stellen Sie sich vor, Sie sind zu einer festlichen Woche bei Hofe und lauter adeligen Menschen eingeladen. Sie kennen die entsprechenden Verhaltensregeln und Protokolle nicht und können sie auch nicht nachlesen. Was auf sie zukommt ist ein großes Mysterium. Wie fühlen Sie sich dabei? Haben Sie Angst etwas falsch zu machen? Es würde mich nicht wundern! Und wie würden Sie sich dann noch fühlen wenn sie in diesem sozialen Umfeld einen für dieses Umfeld markanten Fehler machen und man sie deswegen auslacht oder als unerzogen oder gar unpassend bezeichnet?

Das ist es was auf Autisten und deren Angehörige oftmals in der ganz normalen Welt zukommt. Eine Welt voller, unbekannter und nicht nachlesbarer, Erwartungen und Regeln. Und wenn man dann ungewollt einen Fehler macht: Wird man ganz schnell isoliert und als unerzogen definiert. Und weil man von einem Vorsatz beim Brechen dieser Regeln ausgeht wird auch nicht nachgefragt. Und dann fehlt einfach das Verständnis für das warum.

Soziale Regeln und Erwartungen können eben ungewollt auch ziemlich unsozial sein.