Wenn ich auf meine Schulzeit zurückblicke muss ich wohl unverhohlen zugeben: Die „Theory of Mind“  ist wirklich etwas, dass bei mir nicht funktioniert. Immer dann wenn es darum ging was andere, virtuelle, Menschen denken oder fühlen oder was ein Autor mir mit seinem Werk sagen wollte: Ich war überfordert.

Was wollte uns der Autor damit sagen?

Eine Frage die mich wohl noch bis zu meinem Tod begleiten wird. Eine Frage die mich schmerzt und innerlich zerreißt. Eine Frage die nur allzu oft, natürlich in abgewandelter Form, in Klausuren gestellt wurde.

Ab einer gewissen Klassenstufe ist es ja obligatorisch, dass man sich mit literarischen Werken der jüngeren oder älteren Vergangenheit beschäftigt. Es reicht natürlich nicht diese Werke zu lesen und sich mit dem Inhalt zu befassen, nein…wichtig ist was der Autor uns mit seinem Werk sagen wollte.

Wenn ich meine Gedanken sehr kurz fassen und auch ein wenig direkt ausdrücken müsste käme wohl nur ein Wort in Frage: HÄ?

Das fängt schon bei Fragestellungen zu den einzelnen Figuren in einer Geschichte an. Warum tat der eine dies, warum die andere das? Was haben sie dabei gedacht? Und was und wo liegt das Große Etwas hinter den ganzen Worten?

Fragen die mich zur Verzweiflung bringen konnten. Wenn in einem Text steht: „XYZ ist traurig“ dann ist mir das klar weil es eindeutig ist. Aber wie in aller Welt soll ich bitte herausfinden wie es einer Figur geht wenn über die Emotionen nichts, aber auch rein gar nichts, direkt geschrieben wurde? Andere Menschen können das wohl. Mir bleibt das ein Mysterium. Die Frage die sich mir dann immer stellt: Woher kann man das mit Sicherheit wissen? Wenn es nicht explizit im Text steht sind es letztendlich doch nur Vermutungen oder Annahmen. Und hier kommt es dann zu einem Punkt der, ich vermute wirklich das ist Autismus typisch, einen Autisten zum Verzweifeln bringen kann. Wieso in aller Welt soll man Vermutungen über die Gefühlswelt oder Absichten einer virtuellen Person anstellen? Man kann es doch nie mit Sicherheit sagen ob es wirklich so ist wie man vermutet.

Ich weiß nicht ob es anderen Menschen klar ist was eine solche fiktive Figur fühlt oder denkt. Mir ist es ein Rätsel.

Wenn Bilder überfordern

Was bei Figuren und Personen noch recht einfach erscheinen mag wird spätestens bei Bildern, Symbolen oder gar bei Metaphern wird es für einen Autisten wohl unmöglich noch etwas Produktives beizutragen. Eigentlich sollte man ja denken, dass wenn ich in Bildern denke, mir Bilder und die Symbolik dahinter besonders entgegenkommen und leicht fallen. Dem ist leider nicht so. Ich sehe Bilder wie sie sind. Ohne Interpretation oder eine Metapher dahinter. Nach der Frage zur Gedankenwelt und Motivation von Figuren in Werken großer Autoren ist die Frage nach der Symbolik und vorhanden Metaphern wohl das zweitwichtigste wenn es darum geht einen Text zu interpretieren. Ich sehe Bilder und Gegenstände wie sie sind, die Suche nach für mich versteckten Aussagen dahinter ist etwas das mir sehr schwer fällt und wieder reale Kopfschmerzen bereitet. Zum einen weil ich die Symbolik oftmals nicht wirklich finde, zum anderen weil ich denn Sinn in dieser Suche nicht verstehe. Wenn etwas versteckt, umschrieben und verklausuliert ist, ist es für mich nicht eindeutig. Und was nicht eindeutig ist kann ich nicht als eindeutig nach außen hin verkaufen. Man könnte auch sagen: Ich bin nicht sicher und damit nicht überzeugt. Warum soll ich es dann kommunizieren und, das kommt ja bei Interpretationen und Klausuren noch dazu, nachvollziehbar dokumentieren. Denn in einem ist die Sprache der Mathematik gleich: Die Lösung muss richtig sein und der Lösungsweg möglichst eindeutig und verständlich.

Mir kommt, wenn ich über Interpretationen und deren Sinngehalt nachdenke, ein Bild in den Kopf:

Ein Mann und eine Frau reiten durch eine wüstenähnliche Landschaft. Auf ihrem Weg sehen Sie einen steil nach oben wachsenden Kaktus und daneben einen brennenden Dornenbusch.

Für mich: Zwei Personen reiten durch eine Wüste und sehen eben die vorher beschriebene, zum Teil brennende, Vegetation.

Für Literaturkenner: Die beiden, es sind ja immerhin Mann und Frau, befinden sich in einer Dürreperiode der Liebe und ihre Sehnsucht zueinander drückt sich in dem Kaktus als Phallussymbol und für den Mann stehend und dem brennenden Dornenbusch als Symbol für die brennende Leidenschaft und Begierde der Frau aus.

Noch Fragen?

Am besten Normgerecht!

Der geneigte Leser wird sich nun vielleicht denken: „Das muss man eben hinnehmen. Schule ist nun mal so.“ Für mich war es ein Desaster.  In mehreren Ausprägungen. Zum einen habe ich in entsprechenden Klausuren mehr versagt als brilliert. Zum anderen machte mir mein Gerechtigkeitssinn da einen Strich durch die Rechnung. Warum sollte ich zwanghaft, eben weil es gefordert war, etwas niederschreiben und zur Bewertung abgeben was ich so nicht sah oder dachte? Und: Wer, außer dem Lehrer, sagte mir denn bitte das das was ich da lernte auch richtig und zutreffend ist. Mir waren solche Schulstunden und Klausuren eindeutig zu eindimensional. Meine Mitschüler empfanden sie eher als kreativ und auflockernd. Man konnte sich ja, in engen Grenzen, so richtig austoben.  Letztendlich war es eigentlich ganz leicht: Der Lehrer gab im Laufe des Schulhalbjahres in Bröckchen genau vor wie man denn das Werk zu sehen hatte. Merkte man sich dies und brachte es am Ende so zu Papier: Alles wunderbar.

Machte man aber, wie ich es eher tat, sich wirklich Gedanken was man in der Symbolik zu sehen hatte musste man schon Glück haben, dass der Lehrer das auch nachvollziehen konnte. Konnte er es nicht hatte man verloren!

Ich kam übrigens erst nach meiner Schulzeit darauf, dass es Standardwerke gibt die so ziemlich alle in der Schulzeit besprochenen Werke bis ins Kleinste interpretieren und beschreiben. Komischerweise genau so wie es der Lehrer zumeist wollte. Mir dünkt: Eine ganze Wissenschaft lebt davon Werken von Autoren eine einheitliche Interpretation aufzudrücken und diese als Lehrstoff weiterzugeben. Abweichungen unerwünscht. Verpackt man dann das Ganze noch mit einem schönen Satz: „Das wollte uns der Autor damit sagen!“ ist die Sache geritzt. Meine Frage ob der jeweilige Autor das selbst mal zu Papier gebracht hat das er es genau so und nicht anders meint…blieb stets unbeantwortet.