Ich habe, provokant wie ich sein kann, die Frage nach dem Schärfegrad von Autismus schon gestellt und ob man ihn lieber schön mild oder doch sehr scharf haben möchte. Auch das Problem des „auch“ wurde schon thematisiert. Was mich, in letzte Konsequenz, zu einer Frage bringt die mich sehr beschäftigt: Wer kann überhaupt sagen wie schwer – im medizinischen Sinne – mein Autismus ist? Ist das überhaupt möglich? Und was passiert wenn er, zum Beispiel für einen Schwerbehindertenausweis, bewertet werden muss?

Wer eicht die Waage?

Klar ist: Wenn man eine amtlich anerkannte Bescheinigung über seinen Autismus und dessen Ausprägung benötigt kommt man nicht an einem Facharzt vorbei. Dieser wird einem viele Fragen stellen, evtl. noch einige Tests durchführen (auch wenn man schon eine offizielle Diagnose hat) und versuchen sich ein Bild von der Lage zu machen. Das Problem dabei ist: An welchem Maßstab wird er das was er in Erfahrung bringt messen? Letztendlich kann er es, auch je nachdem wie viel Erfahrung er mit Autisten und Autismus hat, nur anhand seiner ganz eigenen und persönlichen Messlatte machen. Die Diagnoseverzeichnisse und Diagnosekriterien können ihm da sicher einen Anhaltspunkt geben an dem er sich orientieren kann. Nur sind, ganz gemäß dem Bild das Autismus ein Spektrum ist, die Schweregrade der autistischen Merkmale sehr weit gefasst. Hier kommt dann, so muss ich vermuten, das ganz persönliche Bild des Arztes von einem Autisten zum Tragen. Entspricht man diesem Bild ist man eher ein typischer und damit schwerer Autist. Entspricht man den Bild nicht und wirkt eher normal ist man ein leichter Fall. Das sind jedoch alles nur Momentaufnahmen. Wie fatal und falsch das sein kann möchte ich im Folgenden beschreiben.

Wird auch alles gewogen?

Wie bei jeder Bewertung und Einschätzung ist ein einheitlicher Maßstab sehr wichtig. Diesen kann es aber bei Behinderungen wie Autismus nur in Grenzen und am Rande geben. Es gibt weder bildgebende Verfahren die Autismus belegen können noch einen Bluttest der eine Aussage darüber treffen kann wie schwer die Ausprägung von Autismus nun ist. Kriterien, zum Beispiel in welchem Alter man angefangen hat zu sprechen, können nur bei der Bestimmung der Art des Autismus helfen. Die eigentlichen Probleme eines autistischen Menschen werden oft nur oberflächlich erfasst. Für ein Gutachten ist in der Regel ja auch kaum Zeit vorgesehen. Wie gesagt: Sowas sind Momentaufnahmen. Das Problem dabei ist das ausgeprägte Verhalten von Autisten Masken zu tragen und die Auswirkungen des Autismus erst einmal zu kompensieren. Ein Arzt wird also, im Regelfall, erst einmal nicht den Autisten zu sehen bekommen der wirklich vor ihm sitzt. Vor allem und auch auf die Ausprägung seiner Probleme bezogen. Kurz und auch etwas provokant zusammengefasst könnte man sagen:

Er ist fähig in die Arztpraxis zu kommen, er redet, wirkt nicht abwesend und kann alle Fragen mehr oder weniger ausführlich beantworten. Fazit: Ein leichter Fall von Autismus.

In Wirklichkeit kann es aber so aussehen, dass der Autist sich sehr überwinden muss den Termin überhaupt wahrzunehmen, er unter massiven Stress steht, sich so gut auf mögliche Fragen vorbereitet hat das er sie im Schlaf beantworten kann und vor allem nach dem Termin erst einmal viele Tage oder gar Wochen so energielos ist das er kaum etwas hinbekommt.

Welches Bild ist dann aber das wirkliche? Wohl beide. Ein Arzt bekommt aber nur das erste zu sehen und muss, anders kann es eigentlich nicht gehen, sich das zweite mühsam erarbeiten.

Das alles kratzt aber nur an der Oberfläche und die Frage der Glaubwürdigkeit steht immer im Raum. Selbst wenn ein Autist offen und ehrlich sagt wie sehr er belastet ist und wie extrem seine Teilhabe am alltäglichen Leben eingeschränkt ist: Glaubt man es ihm? Das ist etwas das man nicht unterschätzen soll. Auch ich habe immer die Angst das man mir nicht glaubt was ich über mich erzähle. Nicht weil es gelogen ist, sondern weil mein Außenbild dank jahrelangen Trainings im Kompensieren recht normal erscheint. Den Burnout und die Depressionen die sowas mit sich zieht sind erst einmal nicht sichtbar. Der erste Arzt den ich auf meinen persönlichen Verdacht dass ich Autist sein könnte angesprochen habe wollte mich zu einem ADS Spezialisten schicken. Der gleiche Arzt der, angesprochen auf meine Depressionen und den Leidensdruck den ich damit hatte, mir Spaziergänge empfohlen hat. Wie man sieht: Oftmals wird unterschätzt welchem Leidensdruck Autisten unterliegen bevor sie zu einem Arzt gehen.

Das sind alles noch recht einfache Beispiele. Wie kann ein Arzt dann beurteilen wie die Teilhabe am alltäglichen Leben eingeschränkt ist. Er kann mich ja nicht 24 Stunden und rund um die Uhr beobachten. Nur würden Sie mir glauben, wenn ich Ihnen sage das ein einfaches Telefonat mich schon so belasten kann das manchmal ich nicht in der Lage bin es einfach zu führen? Das ich wochenlang nicht oder nur zum Einkaufen aus dem Haus gehe weil es mir einfach zu viel ist? Für viele unvorstellbar, für mich oftmals Alltag. Partys? Fehlanzeige. Kinobesuche? Auch nicht. Freunde besuchen? 2 mal im Jahr? Alles Dinge und Unternehmungen die für nichtautistische Menschen zum Alltag gehören und bei denen sich wohl kaum einer vorstellen kann, dass es Menschen gibt denen das verwehrt bleibt. Nicht weil sie nicht möchten, sondern weil sie schlichtweg nicht können bzw. die Belastung zu groß ist.

So kommt es, zusammengefasst, viel zu oft dazu, dass die Masken die ein Autist trägt und für sich tragen muss dazu führen, dass sein Leidensdruck erheblich unterschätzt wird.  Bleibt die Alternative dass man den Autisten zu seinen Problemen befragt. Und damit immer das vage Gefühl im Hinterkopf des Arztes: Könnte er lügen? Und beim Autisten: Wird man mir glauben?