Nachdem ich letzte Woche die Entstehung eines Overloads beschrieben habe, ist den meisten sicher klarer geworden mit welcher Belastung Autisten umgehen und auch umgehen müssen. Ich kann mir sogar gut vorstellen, dass das Beschriebene für viele Nichtautisten in ihrem Lebensablauf nicht vorstellbar ist. Wie gehen nun Autisten mit dieser Reizbelastung um? Wie kann man, und das funktioniert, weniger stark ausgeprägt und indiziert auch bei Nichtautisten, sein Leben so gestalten das man möglichst wenig durch die Reize behindert wird? Ich möchte mit diesem Beitrag versuchen das zu erklären.

Für mich persönlich liegt der Schlüssel darin, dass man diese Reizflut als Unsicherheit im Leben betrachtet. Zum einen wird man von der schieren Flut erdrückt, zum anderen fällt es umso schwerer die Reize zu priorisieren und zu bewerten. Was ist wichtig von dem was da auf mich einprasselt und was nicht? Kurzum: Man wird in seinem Handeln und Denken unsicher. Die Frage ist: Wie erzeugen Autisten ein für sie sicheres Umfeld?

Geplante Tagesabläufe

Für mich, und da geht es vielen Autisten ähnlich, sind spontane Unternehmungen oder Änderungen im vorgeplanten Tagesablauf problematisch. Man legt sich einen, jeder Autist und auch je nach Tagesform unterschiedlich ausgeprägt, Tagesablauf zurecht den man gerne einhalten möchte. Man plant also was man an einem bestimmten Tag wann erledigen möchte. Für einige ist es ausreichend, und ich denke hier ist die Schnittmenge mit Nichtautisten recht groß, sich einfach eine Liste zu machen was man erledigen möchte. Reihenfolge und Zeitpunkt sind unter Umständen gänzlich egal. Hier ist es, mit Abstrichen, noch am einfachsten eine sich spontan ergebende Situation so einzubauen das sie einen nicht belastet. Einen Schritt weiter gehen Autisten die sich auch die Reihenfolge vorplanen und evtl. schon Zeitfenster für die zu erledigenden Aufgaben festlegen. Auch das ist noch bei einigen Nichtautisten vorhanden, wird dort aber schon von anderen meist als pingelig oder überkorrekt bezeichnet. Solche Tagesplanungen geschehen meistens auch schon vorab, d.h. sie sind schon längerfristig festgelegt. Hier noch weitere Aufgaben einzuplanen fällt schwer, bringt den Plan durcheinander und verunsichert viele die das so handhaben.

Noch einen Schritt weiter gehen diejenigen, die Tagesabläufe sehr genau, sehr starr und einige Tage im Voraus planen. Dazu gehören dann auch Überlegungen rund um die zu erledigenden Aufgaben. Als Beispiel möchte ich hier nur einige Problempunkte nennen:

–          Wie, auf welchem Weg, komme ich zu dem Termin?

–          Wo kann ich dort parken?

–          Wie viel  Zeit brauche ich bis dahin?

–          Gibt es Hindernisse wie Umleitungen, Baustellen, Haltestellenverlegungen usw.?

–          Wen treffe ich dort?

–          Was will oder muss ich sagen?

–          Was kommt da überhaupt auf mich zu?

Das sind nur einige Punkte die jemanden bei der Planung belasten können. Ich selbst gehöre auch zu den Autisten die je planbarer und absehbarer etwas ist sich auch umso wohler in ihrer Haut fühlen. Eine Änderung ist problematisch. Das muss nicht einmal ein Zusatztermin sein, das kann auch ein Ereignis betreffen das man einfach nicht eingeplant hat und das den geplanten Ablauf mehr oder weniger durcheinander bringt. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: gefühlt oft wesentlich mehr als in der Realität dann eintreffend.

Eine gleichbleibende Umgebung

Eine bekannte und möglichst gleichbleibende Umgebung trägt ebenfalls zum Sicherheitsgefühl eines Autisten bei. Man hat sein persönliches Rückzuggebiet, manche haben sicher auch mehrere davon,  in denen sie sich fast oder gar uneingeschränkt sicher fühlt  und man auch uneingeschränkt  einfach man selbst sein und sich fallen lassen kann. Zumindest bei mir hat das auch viel mit möglichen Rückzugsorten zu tun. Ich kann mich zu Hause hinlegen, den Anrufbeantworter an- und die Türklingel ausstellen wann immer und wenn ich will. Wenn man unterwegs ist, sind solche Reizvermeidungsstrategien nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich. Nun werden sicher einige sagen: Vermeidungsstrategien sind der falsche Weg! Konfrontationen mit Problemen sind der bessere. Dafür, und da bietet sich auch dieses Thema gut für an, muss man sich über eines im Klaren sein: Autisten vermeiden Situationen selten aus Angst oder einem Gefühl von Unwohlsein, sie vermeiden Situationen um die, für sie ansonsten nicht kontrollierbare, Reizflut zu mindern. Achtung: Ich spreche hier wohlgemerkt von den „autistisch bedingten“ Anteilen am Verhalten. Das bedeutet nicht, dass Autisten wie alle anderen Menschen auch nicht auch unter Ängsten leiden können. Ein Beispiel dazu:

Ein Autist kann Menschenmengen meiden. Dies tut er ob der zu erwartenden Reizflut und möglichen Überlastung die auf ihn zukommt und nicht weil er Angst vor Menschen hat! Ein Autist kann aber auch, neben seinem Autismus, an einer Soziophobie leiden. In diesem Falle hätte er dann Angst vor den Menschen an sich.

Aber zurück zu der gleichbleibenden Umgebung. Dies kann, je nach Ausprägung und dem generellen Sicherheitsbedürfnis des Autisten unterschiedliche Formen annehmen. Die einen brauchen nur einen Rückzugsort an dem sie sich sicher fühlen. Dieser kann sich durchaus, in mehr oder weniger stark ausgeprägter Form, verändern. Hauptsache der Raum/die Wohnung oder das Haus bleiben Gleich. Andere hingegen sehen ihr Sicherheitsbedürfnis schon eingeschränkt wenn eine Kleinigkeit abweicht oder ins Ungleichgewicht gerät. Das kann die festgelegte Ordnung in einem Schrank sein, die Reihenfolge von Büchern oder DVDs im Regal, die Lage der Stifte auf dem Schreibtisch oder eben für Nichtautisten oftmals gar nicht erkennbare Kleinigkeiten. Mich macht es zum Beispiel unruhig, wenn die Haushaltsschere im Messerblock mit der geschraubten und nicht mit der abgedeckten Seite nach außen steht. Der kleine rote Punkt, auf der einen Seite der Schere als Abdeckung für die Schraube angebracht, gibt da bei mir den Ausschlag. Wo also andere Menschen drüber hinweg sehen bzw. es gar nicht wahrnehmen,  kann für mich ein ungemeiner Druck entstehen. Und wenn in meinem persönlichen Schutzbereich nicht alles in Ordnung ist kommt auch mein Sicherheitsgefühl durcheinander. Hier greifen sicher zwei autistische Merkmale ineinander über: das Sicherheitsbedürfnis zum Schutze für Reizüberflutungen auf der einen Seite und der Detailblick auf der anderen. Manchmal eine explosive Mischung!

Die Routine machts

Bisher habe ich das Sicherheitsbedürfnis und die Erwartung an eine gewisse Konstanz im Leben getrennt sowohl räumlich als auch zeitlich beschrieben. Am bekanntesten über Autismus dürften aber die Routinen sein. Sie verbinden quasi eine zeitliche wie auch eine räumliche Konstanz miteinander. Nicht jeder Autist hat feste Routinen, sie können auch wechseln, verschwinden oder auftauchen und sind ganz individuell ausgeprägt. Sowohl vom Ablauf und Gegenstand wie auch von der Unverletzbarkeit bzw. Abweichung von der Routine her gesehen. Die Frage warum Routinen für manche Autisten so wichtig und Lebensbestimmend sind klingt leicht ist aber nicht wirklich leicht zu beantworten. Ich persönlich denke, dass zum einen die stete Konstanz dem Autisten eine Sicherheit gibt. Er weiß was auf ihn zukommt, er weiß wie er die Aufgabe zu bewältigen hat und er weiß was er machen muss. Es gibt keine Fragen, keine Unsicherheiten, keine Abweichungen. Die Zeit der Routine ist eine sichere Zeit. Zum anderen glaube ich, und das ist auch ein Teil meiner Routinen, helfen diese einem Autisten den Tag zu bestehen. Dinge oder Tätigkeiten die immer wieder oder täglich erledigt werden müssen können nicht verloren gehen. Man vergisst sie nicht, man führt sie aus und man ist sicher dass man nichts übersehen hat. Nichtautisten würden das wohl, weniger streng, einen geordneten Tagesablauf nennen. Es ist allerdings mehr als das. Es ist, zumindest für mich, die Chance ein Leben zu leben, das in einem gewissen Rahmen Sicherheit ausstrahlt. Was Nichtautisten wie selbstverständlich erledigen braucht für Autisten u.U. eine enorme Konzentration. Diese kostet ungemeine Energie und Kraft. Routinen helfen nun diesen Energieaufwand zu reduzieren. Man hat folglich mehr Kraft für andere Dinge des Tages übrig. Routinen sind übrigens nicht immer auf den gesamten Tag ausgelegt. Es gibt sicher Autisten die ihren ganzen Tag immer gleich planen und bestreiten, oftmals ist es aber eine Ansammlung von mehreren Routinen die über den Tag verteilt ausgeführt werden. Ich möchte hier zwei Beispiele aus meinem persönlichen Repertoire anführen:

Wenn ich am Morgen meinen Wissensdurst am PC stille sind der Ablauf und die Reihenfolge der besuchten Seiten immer der gleiche. Bringt mich etwas aus diesem Ablauf heraus, sei es eine Email die dringend bearbeitet werden muss, oder etwas ganz aktuelles was ich nicht vergessen möchte und sofort erledigen muss so kommt meine Routine ins Stocken. Das hat meistens zwei Konsequenzen. Zum einen passiert es, dass ich Teile meiner Webseiten die ich regelmäßig besuche vergesse. Das ist insoweit ärgerlich als das ich in den kommenden Tagen das dann nachholen muss. Zum anderen muss ich mich dann ungemein auf den Ablauf konzentrieren um wieder reinzukommen. Es läuft nicht mehr automatisch ab, ich bin aus dem Takt und das strengt mich sehr an.

Besonders an Wochenenden kommt gerne eine zweite Routine von mir aus dem Takt. Wenn meine Lebensgefährtin morgens zur Arbeit fährt und ich sie verabschiede sorge ich für mein Frühstück vor. Ich lege die Butter aus dem Kühlschrank damit sie weicher wird und koche mir einen Tee den ich dann später gut trinken kann weil er nicht mehr heiß ist. An Tagen an denen meine Lebensgefährtin nicht zur Arbeit muss gehe ich oftmals erst sehr spät ins Erdgeschoß. Folge ist: Zum Frühstück kein Tee in trinkbarer Temperatur und eine Butter die hartnäckig hart ist. Ich kann damit leben, aber es ärgert mich ungemein dass mein Tagesablauf durcheinander ist.

Portable Sicherheit

Was macht man nun als Autist wenn man seine gewohnte Sicherheitszone verlassen will oder muss sich aber so gar nicht danach fühlt? Oder wenn man merkt das man schon sehr belastet ist und der Overload in der Ferne schon „Hallo“ ruft? Ich persönlich bin meiner Lebensgefährtin extrem dankbar, dass sie mich zu sehr vielen meiner außerhäuslichen Aktivitäten, und die sind spärlich gesät, begleitet. Besonders hilfreich war es im Studium. Dadurch, dass ich immer eine vertraute Person an meiner Seite hatte, konnte ich mich auch außerhalb meines Sicherheitsbereiches ein Stück weg fallen lassen. Ich weiß dass ich mich auf sie verlassen kann, sie kennt meine Bedürfnisse, merkt schneller als alle anderen wenn mich etwas zu sehr belastet und ich ruhe brauche und sie schirmt mich auch im gewissen Maße wenn es notwendig ist ab. Im schlimmsten Fall weiß ich: Selbst wenn ich durch einen Overload quasi orientierungslos und handlungsunfähig werden sollte, sie ist jemand der mich zurück in Sicherheit bringen kann und bringt. Ein beruhigendes Gefühl das nicht zu unterschätzen ist wenn man über die Inklusion von Autisten in das alltägliche Leben spricht. Natürlich hat nicht jeder Autist das Bedürfnis nach einer Begleitung. Und diejenigen die es haben, haben oftmals nicht das Glück einer verständnisvollen Lebensgefährtin oder eines Lebensgefährten der diese Aufgabe dann fast bedingungslos übernimmt. Über die Bedeutung von Begleitern und Begleitung werde ich später noch einen Beitrag schreiben. Im Moment würde das den Rahmen dieses Beitrages sprengen.

Beenden möchte ich diesen Beitrag mit einem Aufruf: Man kann Autisten ungemein unterstützen, wenn man Ihr Bedürfnis nach Sicherheit und Konstanz und die Gründe dafür kennt. Wenn jeder nur ein klein wenig von dem Wissen in die Praxis umsetzt wird sich für den jeweiligen Autisten im Umfeld schon viel ändern. Und so kann es passieren, dass auch ein Autist aufblüht, aktiver wird und sich mehr der „Welt der Nichtautisten“ öffnet!

Das Lied “Irgendwas bleibt” von Silbermond kam in der Zeit auf den Markt in der ich kurz vor meiner Diagnose stand. Es hat mir irgendwie aus der Seele gesprochen und ich denke es passt besonders gut zu diesem Beitrag.

Hier Teile von dem Songtext:

Sag mir, dass dieser Ort hier sicher ist
und alles Gute steht hier still.
Und dass das Wort, dass du mir heute gibst,
morgen noch genauso gilt.
Diese Welt ist schnell
und hat verlernt beständig zu sein.
Denn Versuchungen setzen ihre Frist.
Doch bitte schwör, dass wenn ich wieder komm,
alles noch beim Alten ist.
Gib mir’n kleines bisschen Sicherheit
in einer Welt in der nichts sicher scheint.
Gib mir in dieser schnellen Zeit irgendwas das bleibt.
Gib mir einfach nur’n bisschen Halt.
Und wieg mich einfach nur in Sicherheit.
Hol mich aus dieser schnellen Zeit.
Nimm mir ein bisschen Geschwindigkeit.
Gib mir was.. irgendwas, das bleibt.