Einige stellen ja, wie man letzte Woche an dieser Stelle lesen konnte, in Frage dass Autisten Gefühle haben weil sie sich teilweise schwer damit tun selbige zu erkennen oder zu beschreiben. Beim Thema diese Woche ist dies zum Glück nicht so. Oder haben Sie schon mal jemanden getroffen, der behauptet hat „Autisten haben kein Gesicht“? Was bleibt ist die Problematik, dass viele Autisten Probleme beim wiedererkennen von, vorwiegend noch fremden oder ihnen wenig bekannten, Menschen haben. Vielleicht wäre es gut, wenn jemand behaupten würde „Autisten haben kein Gesicht“, dann würden sich nicht so viele Menschen wundern warum man sie, vermeintlich, ignoriert. Warum das so ist, woran das in meinen Augen liegen kann und was mir schon so alles passiert ist folgt im Beitrag.

Das Gesicht: Ein alltägliches Puzzle

Dass die Wahrnehmung von Menschen mit Autismus anders ist habe ich ja schon an verschiedenen Stellen beschrieben. Dies betrifft auch die Wahrnehmung von anderen Menschen, insbesondere von Gesichtern. Dies ist übrigens einer der Punkte bei denen ich mir auch nicht richtig vorstellen kann wie das bei nichtautistischen Menschen abläuft. Ich vermute nun mal: Sie sehen ein Gesicht als Ganzes und geben dem Gesicht, im übertragenen Sinne, den Namen der Person die sie sehen. Oder anders gesagt: Die Gesichter sind ein Synonym für die Personen dahinter.

Bei mir, und ich denke bei vielen Autisten wird es ähnlich sein, ist das ein wenig anders. Ich nehme zuerst kein Gesicht als Ganzes wahr, ich sehe einzelne Teile. Also Augen, Nase, Mund, Haare, Ohren, besondere Merkmale die mir auffallen usw.  Als nächster Schritt suche ich mir bekannte Gesichter die irgendwie ähnlich sein können. Mir ist erst spät aufgefallen das ich, gerade wenn ich Menschen neu kennenlerne, mir oftmals denke: „Sieht aus wie…“. Und das, je nach Situation auch sage. Das Problem dabei ist: Der- oder diejenige sieht das natürlich gar nicht so und fühlt sich leider oftmals auf die Füße getreten. Dabei sage ich ja nicht: Du siehst aus wie Freddy Krüger!  Wobei: Ist Heidi Klum als Schublade so viel angenehmer? Mittlerweile ist mir klar, dass ich einfach Merkmale sehe die andere nicht so wahrnehmen. Und dann ist es für diese Personen natürlich auch nicht nachvollziehbar wieso ich dann eine Ähnlichkeit zwischen zwei Personen sehe. Aber gerade bei Menschen mit denen ich noch länger zu tun habe ist das für mich unheimlich wichtig. Ich kann andere schnell in für mich passende Schubladen stecken und sie so auseinander halten. Das hilft mir, auch wenn Schubladendenken sehr aggressiv und unflexibel klingt, Menschen auseinander zu halten. Alternative wäre, und ich denke das wäre für mich und andere noch erheblich problematischer, dass ich jedes Mal wenn ich diese Personen sehe sie nach ihrem Namen fragen muss. Je länger ich mit diesen Menschen zu tun habe und je öfter ich sie sehe, umso besser klappt auch die Erkennung. Irgendwann festigt sich das aus den Einzelteilen zusammengesetzt Gesamtbild „Gesicht“ und dieses Gesamtbild rutscht quasi aus einer vorrübergehenden Schublade heraus und wird selbst zu einer. So habe ich mir im Laufe meines Lebens quasi eine Vielzahl von unterschiedlichen Gesichtsmustern angeeignet und die Differenzierung fällt mir zunehmend leichter. Zumindest dauert es nicht mehr ganz so lange, bis ich eine Person konkret einem Gesicht zuordnen kann.

Wat? Wer bist Du denn?

Nur was ist „nicht mehr so lange“? Und sind diese Schubladen dauerhaft vorhanden? Wenn ich für mich spreche muss ich folgendes sagen:

Je intensiver der Kontakt mit der Person ist, umso schneller kann ich das Gesicht auch einem Namen zuordnen. Das ändert sich aber auch wieder wenn ich die Person länger nicht sehe. Die Schubladen und das Bild der Person können also durchaus verblassen. Natürlich werde ich Personen meines alltäglichen Lebens nicht so schnell vergessen. Aber es kann schon sein das ich einen Paketboten der mich jahrelang und regelmäßig besucht hat nach einigen Jahren nicht mehr wieder erkenne. Oder mich zumindest sehr intensiv fragen muss woher ich diese Person kenne.

Hilfreich und für mich sehr wichtig ist der Ort und die Situation in der ich eine Person treffe. Je eher ich diese Person an einem Ort erwarte umso schneller erkenne ich sie auch. Ich habe hier ein, mir im Nachhinein recht unangenehmes weil peinliches Beispiel. Ich habe vor wenigen Jahren meinen Hausarzt gewechselt. Meine neue Hausärztin hatte ich zu diesem Zeitpunkt erst zweimal gesehen. Eines Tages ging ich nun mit meiner Freundin in die Apotheke um etwas abzuholen. Eine Frau lief auf mich zu, wohl auch auf dem Weg in die Apotheke. Hinterher sagte meine Freundin mir: „ Du erkennst Deine Hausärztin wohl auch nicht wenn sie Dir begegnet.“ Das diese Frau meine Hausärztin war und in der Apotheke sogar eine ihrer Arzthelferinnen stand ist mir komplett entgangen. Ich habe nicht mit ihr gerechnet und sie deshalb nicht erkannt. Manchmal frage ich mich ob mir Menschen das verzeihen können und ob ein solches „Übersehen“ in der Gesellschaft als unhöflich gesehen wird. Auch wenn das hier sicher nicht jeder lesen wird den ich kenne und den ich mal übersehen habe oder noch übersehen könnte:  Es tut mir leid, ich mache es nicht mit Absicht! Wenn Sie einen Autisten in ihrem Umfeld kennen: Nehmen Sie es ihm bitte nicht übel wenn er nicht auf sie reagiert! Wir meinen es nicht böse! Zumindest meistens :)

Es wäre schön, wenn man auch an Orten wo man es erwarten könnte auch bekannte Menschen erkennen kann. Das funktioniert aber auch nur dann, wenn man als Autist nicht zu sehr belastet ist. Je mehr auf einen einprasselt und umso mehr man sich auf das was man machen möchte konzentrieren muss, umso schwerer fällt einem auch die Erkennung von Personen. Ich habe das mit der Phase „Tunnelblick“ in dem Beitrag über die Entstehung einer Reizüberflutung ja schon angedeutet. Auch hier habe ich ein Beispiel das mir in der Vergangenheit auch schon einige böse Kommentare und Blicke eingebracht hat.

Um zur Ausbildung zu kommen musste ich eine längere Strecke mit dem Bus fahren. Eine Auszubildende war ebenfalls aus meinem Stadtteil. So kam es, auch weil bei uns die Busse nicht so oft gefahren sind, dass wir im gleichen Bus in die Stadt gefahren sind. Da an meiner Haltestelle teilweise extrem viele Schüler warteten bin ich häufig zur Haltestelle davor gelaufen. Meistens haben wir uns auch dort getroffen. In den Fällen wo das nicht der Fall war und sie schon im Bus saß bin ich regelmäßig an ihr vorbeigelaufen. Wie kommts? Ich war in der Situation so gestresst, dass ich nur nach einem Muster und meinen Vorlieben entsprechend nach dem ersten freien Platz  recht weit vorne im Bus gesucht habe. Sie bevorzugte es aber hinten zu sitzen. Ich weiß gar nicht wie oft sie mir, zum Glück durchweg mit einem Grinsen im Gesicht gesagt hat: „Nicht ausgeschlafen? Oder doch sehschwach?“ weil sie mir zwar einen Platz frei gehalten hat ich das aber mal wieder geflissentlich übersehen habe. Wenn sie das jemals lesen sollte: Sorry :) Nun weißt Du woran es gelegen hat!

Sprich mit mir!

Ich habe festgestellt, dass mir Sprache immer sehr hilft Menschen zu erkennen. Ich erkenne Menschen, eben auch und besonders an unerwarteten Orten, viel schneller und präziser an der Stimme als am Aussehen. Ob ich ein besonderes Talent für Stimmen und Klänge habe oder ob es daran liegt das Stimmen sehr einmalig und wesentlich ganzheitlicher als Gesichter sind weiß ich nicht. Vielleicht liegt es auch daran, dass zumindest bei mir akustische Reize auch in Stresssituationen immer noch durchdringen wo der Tunnelblick schon vieles ausblendet. Ich habe mir diesen Vorteil zu Eigen gemacht um, gerade in der Phase wo ich Menschen noch nicht sicher und schnell erkenne, nicht allzu lange für eine Identifikation zu brauchen. Wenn jemand also plappert wie eine Ente ist das ausnahmsweise hilfreicher als wenn jemand es vorzieht zu schweigen. Das dürfte aber auch der einzige Moment und die einzige Situation sein wo ich das vorziehe!

Wie wichtig Sprache für mich sein kann zeigt vielleicht das nachfolgende kleine Beispiel.

Eine wirklich nette Kommilitonin aus meinem Studiengang mit der ich auch schon einige Vorlesung zusammen gemeistert habe ist mir an der Hochschule im Winter begegnet. Und ich habe sie nicht erkannt. Ich war auf dem Weg zu einem Termin bei meinem Professor und spät dran. Ich sah zwar zwei Frauen die Straße überqueren, habe mir aber am Campus natürlich nichts dabei gedacht. Erst als mein Name gerufen wurde war mir klar: Ich muss sie kennen. Also: Stehenbleiben, umdrehen und warten. Ich sollte erwähnen, dass es Winter war und dieser Winter war extrem kalt. Die Kommilitonin war also dick eingepackt, hatte anstelle von Kontaktlinsen eine Brille auf und ihre Haare waren unter der großen Kaputze des Anoraks versteckt. Ich sah also nur eine warm einpackte Frau auf mich zukommen, das Gesicht und die Haare verborgen. Normalerweise kann ich schnell schalten, aber hier war ich an der Grenze meiner Belastbarkeit angelangt. Das schlimme war: ich erkannte ihre Stimme. Ich konnte sie auch als Kommilitonin einordnen. Aber viel mir dazu ein Gesicht oder ein Name ein? Nein. Ich konnte ja auch nichts entdecken was mir eine Verifikation erlaubt hätte. Dummerweise ging es in dem Gespräch auch um nichts woran ich sie hätte erkennen können. Ich brauchte sicher mehr als eine Minute um zu erkennen wen ich da vor mir hatte. Wenn man nun bedenkt wie schwer Small Talk für Autisten ist, kann man sich vorstellen wie schlimm diese zu überbrückende Zeit für mich war.  Ohne das Gespräch hätte ich sie definitiv nicht erkannt. Und wieder hätte mich jemand wohl für schofelig1 oder abweisend gehalten.

Wie man sehen kann: Das Erkennen von anderen Menschen ist und kann für Autisten harte Arbeit sein. Es ist ein Puzzel das sich nicht nur aus einzelnen Gesichtsmerkmalen zusammen setzt sondern auch eines das noch eine Anleitung, in meinem Fall die Sprache, braucht um gelöst zu werden. Ich weiß nicht wie es nichtautistischen Menschen geht, aber ich vermute fast man muss sie schon darum beneiden das sie vieles alltägliches ganz unbewusst und quasi automatisch instinktiv bewältigen bei dem Autisten viel Gedankenarbeit leisten müssen.