Für einen „Im Dialog mit…“ eignet sich das nachfolgende Gespräch leider nicht. Ich habe mich daher entschlossen ein kleines Kammerspiel (bitte nicht zu wörtlich nehmen) daraus zu machen. Seinen Ursprung hat es zum einen in einem Werbespot „I am Autism“ von Autism Speaks. Er erzeugt Angst und zeichnet ein dunkles Bild von Autismus. Für alle die kein Englisch verstehen habe ich hinter jedem Teil eine deutsche Übersetzung eingefügt. Die Erwiderung stammt von mir. Es ist die Sicht wie ich Autismus empfinde und sehe. Letztendlich stehen hier zwei Sichtweisen gegenüber. Es gibt in diesem Kammerspiel keinen Gewinner und keinen Verlierer. Am Ende steht die Neutralität. Ohne Angst, aber auch ohne Superheld mit Superkräften.
Aber kommen wir nun zum Platz des Geschehens. Wir befinden uns in einer gemütlichen Wirtschaft in der viele Menschen sitzen und sich unterhalten. Die Tür geht auf, und ein dunkel gekleideter eher kleiner Mann tritt herein. Er wendet sich an die Gäste und fängt mit dunkler aber klarer Stimme an zu sprechen:
I am autism. I’m visible in your children, but if I can help it, I am invisible to you until it’s too late. I know where you live.
Ich bin Autismus. Ich bin sichtbar in Euren Kindern, aber wenn es möglich ist bleibe ich solange für Euch unsichtbar bis es zu spät ist. Ich weiß wo Ihr wohnt
Die ersten Gäste schauen sich besorgt um. Der Mann jedoch redet unbeirrt weiter:
And guess what? I live there too. I hover around all of you. I know no color barrier, no religion, no morality, no currency. I speak your language fluently. And with every voice I take away, I acquire yet another language.
Und wisst ihr was? Ich wohne auch bei Euch! Ich schwebe um Euch herum. Ich kenne keine Hautfarben, keine Religion, keine Moral und keine Währungen. Ich spreche Eure Sprache fließend. Und mit jeder Stimme die ich wegnehme, ermächtige ich mich einer weiteren Sprache
In der Tat ist das Stimmgewirr in der Wirtschaft mittlerweile verstummt und die ersten Gäste schauen ängstlich zum Wirt.
I work very quickly. I work faster than pediatric aids, cancer, and diabetes combined And if you’re happily married, I will make sure that your marriage fails. Your money will fall into my hands, and I will bankrupt you for my own self-gain.
Ich arbeite sehr schnell. Ich arbeite schneller als AIDS bei Kindern (?), Krebs und Diabetes zusammen. Wenn Du glücklich verheiratet bist werde ich dafür Sorgen das die Ehe scheitert. Dein Geld wird in meine Hände fallen und ich werde Dich ruinieren zu meinem Selbstzweck
Die ersten Gäste verlassen verschreckt die Wirtschaft nicht ohne dabei ihre Geldbörse fest im Griff zu haben.
I don’t sleep, so I make sure you don’t either. I will make it virtually impossible for your family to easily attend a temple, birthday party, or public park without a struggle, without embarrassment, without pain.
Ich schlafe nicht und ich sorge dafür das Du es auch nicht kannst. Ich mache es Euch praktisch unmöglich einen Tempel, eine Geburtstagsparty oder einen öffentlichen Park zu besuchen ohne kämpfen zu müssen, ohne verlegen zu werden und ohne Schmerzen.
Kinder fangen an zu weinen und schauen fragend von dem Mann zu ihren Eltern und zurück.
You have no cure for me. Your scientists don’t have the resources, and I relish their desperation. Your neighbors are happier to pretend that I don’t exist—of course, until it’s their child.
Ihr habt keine Heilung für mich. Eure Wissenschaftler haben nicht die Möglichkeiten und ich genieße ihre Verzweiflung.
Eure Nachbarn sind glücklich solange sie glauben das es mich nicht gibt, natürlich nur bis ihr Kind betroffen ist.
Der dunkel gekleidete Mann wirkt dabei größer und bedrohlicher. Wenn man es nicht besser wissen würde könnte man wohl sagen: Er wächst.
I am autism. I have no interest in right or wrong. I derive great pleasure out of your loneliness. I will fight to take away your hope. I will plot to rob you of your children and your dreams. I will make sure that every day you wake up you will cry, wondering who will take care of my child after I die?
Ich bin Autismus, ich habe kein Interesse an Richtig oder Falsch. Eure Einsamkeit macht mir Freude. Ich werde dafür kämpfen Euch die Hoffnung zu nehmen. Ich raube Ihnen und ihren Kindern die Träume. Ich werde dafür sorgen, dass jeden Tag weinen an dem Sie aufwachen weil sie sich fragen wer sich um Ihr Kind kümmern wird wenn sie nicht mehr leben.
Eltern fangen an ihre Kinder schützend in den Arm zu nehmen.
And the truth is, I am still winning, and you are scared. And you should be. I am autism. You ignored me. That was a mistake.
Die Wahrheit ist: ich gewinne immer noch und Du bist verängstigt. Und das solltest Du auch sein. Ich bin Autismus. Du hast mich ignoriert. Das war ein Fehler.
Der Mann, er ist mittlerweile zu einer stattlichen Größe angewachsen schaut leer in die Runde. Er scheint tatsächlich von der Angst der Anwesenden zu leben. Sich daran zu nähren, zu wachsen und immer bedrohlicher zu werden.
An einem Tisch ganz hinten in der Wirtschaft sitzt ein eher unscheinbarer Mann der sich bisher fast reglos zurückgehalten hat. Er steht auf, nimmt seinen ganzen Mut zusammen, tritt dem dunklen Mann gegenüber und fängt leise an zu sprechen:
Du bist Autismus? Dann erzähle ich Dir mal wie ich Autismus sehe:
Autismus ist
eine Herausforderung
ein Fluch
eine andere Art der Wahrnehmung
eine Bereicherung
Dinge sehen die andere übersehen
das Leben mit einer eigenen Sprache zu beginnen
ein Erlebnis
sich verstecken zu müssen
aus sich heraus zu gehen
Overload und Meltdown
ein Blick für das Unscheinbare
klare Sprache
Der dunkel gekleidete Mann stockt und schaut verwirrt. Der Gast spricht unbeirrt weiter:
gemobbt werden
ein Schimpfwort im Munde anderer
witzig
Untrennbar mit mir Verbunden
manchmal ein Leben wie in einem Film
mit Stereotypen belastet
weder Leicht noch Schwer
die Kunst zu Überleben
eine Lupe der Wahrnehmung
logisch und trotzdem für viele unverständlich
ein Leben mit Behinderung
ein Kampf mit Behörden
das Salz in der Suppe des Lebens
die Chance aufzuklären
das Leben kostenlos in High Definition
Toleranz und Verständnis
So wie der dunkle Mann mit der Angst der Gäste gewachsen ist wird er Stück für Stück und unaufhaltsam kleiner. Derjenige der vorher noch Angst verbreitete scheint nun selbst Angst zu bekommen. Es wagt nur äußerst selten jemand sich ihm entgegen zu stellen und über Autismus zu reden. War es doch sein ureigenes Thema über das er sprach und mit dem er Angst erzeugte und wovon er lebte.
nicht verstanden zu werden
Angst und Hoffnung
eine Stärke und Schwäche zugleich
untrennbar
eine Persönlichkeit
eine weitere Dimension im Universum
die Liebe zu komplizierten Sätzen
sich gegenseitig zu zerfleischen
die Vorliebe für Symmetrien
das Bedürfnis die Welt um sich herum zu begreifen
sich zu fragen ob man nun verarscht wird oder nicht
am Leben zu verzweifeln
Dinge zu hinterfragen
zu lieben und geliebt zu werden
nicht einfach zu erklären
wie ein Weizenkorn zwischen zwei Mühlsteinen
für dumm gehalten zu werden
stigmatisiert zu sein
überhört zu werden
unsichtbar für andere zu sein
für seine Rechte kämpfen
ein Tanz auf einem Drahtseil
ein Fenster zur Welt
ein Reizgewitter im Kopf
Atemberaubend und Ohrenbetäubend
der Wunsch nach Beständigkeit
Routine
manchmal Panik in den Augen anderer
der Maskenball des Lebens
Die Maske des dunklen Mannes scheint zu schwinden. Er ist mittlerweile stark geschrumpft und auch seine dunkle Aura nimmt stetig ab. Er ist und bleibt sprachlos, wieso konnte der Gast ihm entgegen gehen? Warum hatte er keine Angst? Und warum schaffte er es gegen seine Wahrheit von Autismus anzusprechen?
für RainMan gehalten zu werden
Small Talk zu hassen und auf Floskeln zu verzichten
Außenseiter zu sein
ständig mit sich selbst zu kämpfen
anderen die Hand zu reichen
ein Leben lang kraftraubende Kompensation
sich nur auf sich selbst zu verlassen
alles zu hinterfragen
das Runzeln auf der Stirn von Ärzten
eine Träne in den Augen von Menschen die man liebt
eine Antwort auf viele Fragen
der Grund für noch mehr Fragen
Menschen aus dem Weg zu gehen
kleine Erfolge lieben zu lernen
ein großes Fragezeichen in den Köpfen anderer
manchmal das Gefühl von Einsamkeit
ein Leben voller verschiedener Facetten
so individuell wie ich es bin
das Leben immer und ständig zu planen
nicht entspannen zu können
ständig im Kopf auf Hochtouren zu laufen
Menschen faszinieren zu können
wenn es auf einer Tagung während eines Vortrages totenstill wird
nicht aus seiner Haut zu können
manchmal doch aus seiner Haut zu schlüpfen und Dinge zu vollbringen die man sich nicht zugetraut hat
eine ständige Selbstüberwindung
kreativ zu sein
seine Gabe zu finden und sie zu nutzen
Stärken haben und trotzdem schwach sein
Vor Kurzem noch groß, stark und dunkel steht der Mann nun klein, gebeugt und unsicher in der Tür des Wirtshauses. Er hatte den Worten des jungen Gastes nichts entgegen zu setzen.
Entscheidungen nicht treffen zu können
zu merken das man etwas bewegen kann
ein Leben der besonderen Art
manchmal schwer zu ertragen
wenn es beruhigend ist die Füße aneinander zu reiben
wenn man Schaukelt ohne es zu bemerken
wenn man Dinge albern findet die andere für witzig halten
wenn man die Welt um sich betrachtet und sich denkt: Sind die alle irre?
wertvoll für mein Leben
meine Lebensaufgabe und -sinn?
nicht mit 500 Worten zu beschreiben!
Autismus ist ein Teil von mir!
Kaum waren die Worte gesprochen hatte sich der unheimliche Mann aufgelöst. Er war verschwunden, die Angst hatte nicht gewonnen. Als wäre nichts geschehen, die Gäste schütteln sich als hätten sie gerade einen komischen Traum gehabt, setzt sich der junge Mann wieder in seine Ecke und murmelt leise:
Erzähl mir nicht wer ich bin wenn Du mich nicht kennst.
Ich kann leider kein Englisch:( LG
Ich habe im vorherigen Blogbeitrag den Text von „I am Autism“ so gut ich konnte übersetzt. Du findest die Übersetzung hier:
EDIT: Nun ist auch hier die Übersetzung mit eingearbeitet.
Super geschrieben!
Vielen Dank 🙂
Einfach klasse.
Dieses „Kammerpiel“ sollte weit verbreitet werden, denn es ändert die Sicht auf Autisten und stoppt hoffentlich die vielen Vorurteile.
Zitat: „Erzähl mir nicht wer ich bin wenn Du mich nicht kennst.“
bzw. „Nicht kennen und verstehen lernen willst“ !
Zitat Hans: „Dieses “Kammerpiel” sollte weit verbreitet werden, denn es ändert die Sicht auf Autisten und stoppt hoffentlich die vielen Vorurteile.“
Ich hoffe, dieses Kammerspiel findet Einzug in das geplante Buch. Damit ich es als Lektüre an Lehrer und Therapeuten/Ärzte und Behördenmitarbeiter verteilen kann!!
Hallo Anita,
bisher war das Kammerspiel nicht fürs Buch eingeplant, aber ja: Es sollte wohl dort auftauchen. Ich schaue mal wo ich es unterbringen kann 🙂
Viele Grüße
Aleksander
[…] Ok, wenn Autism Speaks das sagt…muss was dran sein. Besonders wenn es eine besonders gründliche Erhebung ist! Kein Wort davon, dass Autism Speaks genetisch forscht und Autismus via vorgeburtlicher Früherkennung ausrotten möchte. Wenn Autismus nicht so weit verbreitet wäre müsste man das ja nicht, gell? Über Autism Speaks habe ich auch schon gebloggt. […]
[…] das sie keinen Autisten bekommen wenn Autismus eine furchtbare Seuche, unendliches Leiden und eine Lebenzerstörende Behinderung ist? Und wenn man dann noch sieht das Autism Speaks mittlerweile, belegt durch eine natürlich […]
[…] Quergedachtes: Autismus: Ein Kammerspiel (via […]
[…] Autismus „einsetzen“. Das ist negativ, Leidgeprägt und verheerend. Ein Beispiel dafür ist „I am Autism“ von Autism Speaks. Dazu kommt das über Autismus kaum aufgeklärt wird. Schon gar nicht aus der […]
[…] Speaks neidlos bescheinigen: Sie haben es mittlerweile, vielleicht auch nach der Schlappe mit „I´m Autism“ , gut gelernt ihre wahren Ziele zu verstecken bzw in lauter „Wohltat“ zu […]
[…] mitschwang. Es hörte sich schon stark nach einer Werbesendung für Autism Speaks an. Was die mit „I am Autism“ angerichtet haben und welche Meinung sie verbreiten habe ich in diesem Blog schon mehrfach […]
[…] Es sollte eigentlich jedem klar sein, was so eine Aussage wirklich bedeutet. Wenn man Autismus “ausrotten” sagt, dann meint man damit Autisten “ausrotten”. Und folgerichtig beschäftigt sich die Forschung von “Autism Speaks” mit der Erfassung von Genomen mit dem Ziel, einen pränatalen Test auf Autismus zu entwickeln. Was dies dann bedeuten wird kann man auch heutzutage schon sehr gut erkennen. Dank der vorgeburtlichen Tests auf das Down-Syndrom werden heutzutage über 90% der Kinder mit dem Down-Syndrom abgetrieben. Wer wirklich glaubt, dass es bei Autismus anders wäre ist meiner Meinung nach hoffnungslos naiv. Noch dazu weil “Autism Speaks” wirklich alle Register zieht, um Autismus als etwas Schreckliches, Bedrohliches, Grauenvolles, Dunkles und Lebenzerstörendes darzustellen. Im letzten Jahr haben sie einen aufwändig produzierten Videospot herausgebracht, mit dem sich Quergedachtes schon ausführlich beschäftigt hat (unbedingter Lesetipp!) https://quergedachtes.wordpress.com/2014/06/12/autismus-ein-kammerspiel/ […]
[…] Es sollte eigentlich jedem klar sein, was so eine Aussage wirklich bedeutet. Wenn man Autismus “ausrotten” sagt, dann meint man damit Autisten “ausrotten”. Und folgerichtig beschäftigt sich die Forschung von “Autism Speaks” mit der Erfassung von Genomen mit dem Ziel, einen pränatalen Test auf Autismus zu entwickeln. Was dies dann bedeuten wird kann man auch heutzutage schon sehr gut erkennen. Dank der vorgeburtlichen Tests auf das Down-Syndrom werden heutzutage über 90% der Kinder mit dem Down-Syndrom abgetrieben. Wer wirklich glaubt, dass es bei Autismus anders wäre ist meiner Meinung nach hoffnungslos naiv. Noch dazu weil “Autism Speaks” wirklich alle Register zieht, um Autismus als etwas Schreckliches, Bedrohliches, Grauenvolles, Dunkles und Lebenzerstörendes darzustellen. Im letzten Jahr haben sie einen aufwändig produzierten Videospot herausgebracht, mit dem sich Quergedachtes schon ausführlich beschäftigt hat (unbedingter Lesetipp!) https://quergedachtes.wordpress.com/2014/06/12/autismus-ein-kammerspiel/ […]
[…] Und auch auf den Text von Aleksander Knauerhase „Autismus: Ein Kammerspiel“. […]