Liebe Medienvertreter und Journalisten: Diesen Blogpost schreibe ich (fast) nur für Euch. Allerdings wird es kein vorweihnachtliches Adventsgeschenkt, vielmehr wird es wohl die Rute des Knecht Ruprecht die hier zum Einsatz kommt. Aber immer in der Hoffnung das, bleibt man beim Bild des Knecht Ruprecht, ihr im kommenden Jahr stets bestrebt sein werdet in der kommenden Weihnachtszeit vom Nikolaus beschenkt zu werden.

Der Anlass für mein Blogpost an Euch ist in doppeltem Sinne äußerst traurig. Gestern gab es in den USA einen Amoklauf an einer Grundschule. Fast 30 Menschen, darunter 20 Kinder, sind zu Tode gekommen. Es ist schlimm dass sowas passiert und es ist richtig dass in den Medien darüber berichtet diskutiert wird.

Nicht weniger schlimm ist, für mich als Autisten, aber manchmal auch in welcher Weise über solche Ereignisse berichtet wird. Heute früh hörte ich im Radio im Nachrichtenblock über den Täter folgendes (nicht wörtlich!):

Der Täter….persönlichkeitsgestört…wahrscheinlich autistisch…sozial isoliert….

Alleine die Assoziationskette in dieser Aussage ist traurig.

Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung und als solches eine angeborene Behinderung. Mit einer Persönlichkeitsstörungen hat das nicht viel zu tun. Davon abgesehen: Wenn ein Mensch sozial isoliert lebt lässt das keinen Rückschluss auf einen evtl. vorhandenen Autismus zu. Die soziale Isolierung in die sich Autisten manchmal begeben (nicht zwingend!) ist in vielen Fällen eine Reaktion auf Umwelteinflüsse die durch autistische Merkmale verstärkt wahrgenommen werden. Das heißt im Umkehrschluss nicht, dass Autisten sich gerne isolieren! Aber darauf möchte ich hier nicht weiter eingehen.

Autismus als Grund?

In den Medien wird in letzter Zeit immer wieder, bei Amokläufen oder Straftaten die man sich erst einmal nicht erklären kann, von einem autistischen Täter gesprochen. Meist mit dem Zusatz „vermutlich“. Warum ist das so? Seid ihr Euch wirklich sicher, dass Autismus einen Amoklauf auslösen kann? Woran liegt das? Als Autist verstehe ich das nicht. Ich kann mir, bei meinem Versuch genau das zu verstehen, nur zwei Gründe erklären:

Zum einen: Die Überzeugung das Autismus eben doch einen Amoklauf auslösen kann. Nur welche Gründe kann es, oberflächlich gesehen, dafür geben? Achtung: Es folgen einige Stereotypen über Autismus!

Autisten sind potentiell und grundlos aggressiv!

Dieser Eindruck entsteht zumeist dann, wenn Autisten für die Umwelt plötzlich, unverständlich und manchmal auch sehr heftig reagieren. Aber warum ist das so? Sicher nicht weil sie aggressiv sind oder anderen Menschen schaden wollen. So ein Verhalten drückt in vielen Fällen eine Überlastung aus.

Stellen Sie sich vor das sie in eine Ecke gedrängt werden, ihre Hilferufe übersehen werden und Sie keine andere Möglichkeit mehr sehen diesem Druck und dieser Belastung auszuweichen. Wenn Sie sich dann in einem solchen Moment wehren oder bemerkbar machen: Ist das Böse gemeint? Wollen Sie jemandem schaden? Ich denke nicht. Und so ist das eben auch bei Autisten, wir sind auch nur Menschen!

Autisten leben in ihrer eigenen Welt

Viele gehen davon aus, wohl begründet in der Annahme dass es eine Notwendigkeit des Lebens ist mit der Umwelt zu kommunizieren, dass Autisten in einer Art eigenen Welt leben. Und wenn man schon in dieser eigenen Welt lebt ist es auch nicht verwunderlich, dass dort andere Maßstäbe und Regeln gelten. Da ist es nicht weit zur Schlussfolgerung: Ein Autist versteht „unsere“ Welt derart anders das etwas wie ein Amoklauf in Ordnung sein könnte. Was spricht dagegen? Vieles!

Zum einen leben Autisten definitiv nicht in ihrer eigenen Welt. Es gibt zahllose Beispiele von Autisten von denen man ausging das sie von ihrer Umgebung nichts mitbekommen haben. In dem Moment in dem man aber einen Zugang zu ihnen und eine Möglichkeit gefunden hat mit ihnen zu kommunizieren wurde dies widerlegt. Man war erstaunt darüber was Autisten, die man in ihrer eigenen Welt vermutete, von der „wirklichen“ Welt mitbekommen haben.

Zum anderen: Amokläufe sind in den meisten Fällen geplant. Man muss sich Waffen organisieren, die Tat planen und dann ausführen. Passt das wirklich zu einem Menschen von dem man glaubt er lebe in einer eigenen Welt? Mal ehrlich: Wer sowas plant und durchführt weiß bis zu einem gewissen Punkt genau was er macht. Unterschiedliche Werte von Leben und Ethik können so ein Verhalten sicher nicht erklären!

Autisten sind Eis- bzw. Gefühlskalt

Autisten wird nachgesagt, dass sie gefühlskalt sind. Man spricht ihnen die Empathie für andere Menschen ab und verbindet das oftmals auch mit der Annahme dass Autisten eigene Gefühle nicht empfinden können. Das würde zu so einer kaltblütigen Tat natürlich prima passen. Aber ist das auch so? Definitiv nicht! Zum einen gibt es durchaus empathische und sehr empathische Autisten.

Zum anderen: Selbst wenn jemand nicht nachempfinden kann wie grausam und brutal eine solche Tat ist bedeutet das nicht, dass er auch dazu fähig ist. Wenn ich, aufgrund eines Nervenschadens, keinen Schmerz in einem Finger verspüre heißt das ja nicht auch automatisch das ich anderen Menschen in den Finger schneide oder Ihnen den Finger breche, oder?

Autismus als Entschuldigung

Wenn Autismus nun schon nicht wirklich als Begründung für eine solche Tat herhalten kann, wieso wird es dann erwähnt? Vielleicht weil man mit der Behinderung Autismus diese Tat entschuldigen möchte? Hier muss ich mich wieder fragen: Warum? Macht es die Tat besser? Nein! Macht es den Täter besser? Nein! Was steckt also dahinter? Ich vermute da eine Kombination aus verschiedenen Argumentationspunkten.

Auf der einen Seite sind Menschen wohl immer bestrebt für alles einen Grund zu finden. Besonders für Ereignisse die einem selbst nicht verständlich sind. Man kann sich nicht erklären warum ein junger Mann ein derartiges Massaker anrichtet. Da kommen Argumente wie Killerspiele und auch Persönlichkeitsstörungen einem besonders gelegen. Man hat, schnell und unkompliziert, einen „guten“ Grund gefunden sich das unerklärbare zu erklären. Und da Autismus, besonders in den USA, immer präsenter wird und noch mit vielen Vorurteilen wie z.B. der „geistigen Behinderung „behaftet ist (s.o.) findet man in ihm eine gute Begründung für solche Taten. Autisten sind in den Augen vieler Menschen eben gestört.

Auf der anderen Seite ist es unter Umständen auch ein Versuch es den Hinterbliebenen des Täters das Leben leichter zu machen. Immerhin ist es leichter zu sagen: „Der Täter war behindert und wusste nicht was er tat!“ als „Da ist aber eine Menge schief gelaufen und wir haben nichts bemerkt!“. Aber kann und darf Autismus für solche Rechtfertigungen herhalten? Ich denke nicht! Autismus macht einen Menschen nicht unzurechnungsfähig! Besonders und explizit auch dann wenn er überhaupt fähig ist solche Taten zu begehen!

Im Zweifel für den Autisten

Was möchte ich nun Euch medienschaffenden und Journalisten mit diesem Blogpost sagen? Bitte legt, auch wenn es einen enormen Zeitdruck bei aktuellen Meldungen gibt, mehr Sorgfalt an den tag wenn es um Sprache, Behinderungen und Begründungen geht. Autismus spielt (ich sage mal in den allermeisten Fällen) definitiv keine Rolle bei so einer Tat. Warum also erwähnen? Ihr erwähnt ja auch nicht das der Täter Schuhgröße 47, blonde Haare und einen Schnupfen hatte. Warum? Genau: Weil es in dem Moment und für die Tat keine Rolle spielt!

An diesem Punkt komme ich dann wieder zum Anfangsbild der Vorweihnachtszeit:

Ich wünsche mir von allen Medienschaffenden und Journalisten einen sorgfältigeren Umgang mit der schönen und sehr umfangreichen Sprache dieses Landes. Und bitte sprecht nicht von Autismus wenn dieser nicht ausschlaggebend ist oder nur weil andere Medien eben genau dies tun. Denkt nach und berichtet bitte objektiv! Denn je mehr Autismus im Zusammenhang mit Amokläufen oder ähnlich grausamen Tat gebracht wird umso mehr werden auch die Vorurteile gegenüber Autisten verstärkt und bestätigt! Nicht Autisten sind die Amokläufer dieser Welt, es sind Menschen!

In diesem Sinne: Im Zweifel bitte für den Autisten.

Eine frohe und hoffentlich friedlichere Vorweihnachtszeit wünscht

Knecht Ruprecht

Update (17.12. 18 Uhr):

Die letzten 2 Tage waren wirklich anstrengend. Ich habe versucht mit dem Bild des Knecht Ruprecht an die Medien zu appellieren einen großen Fehler nicht zu begehen. Das Ergebnis war geteilt. Es gab die positiven Momente. Medien korrigierten Titelzeilen, nahmen Autismus heraus. Andere hörten auf von Autismus im Zusammenhang mit dem Amoklauf zu reden. Die Protestwelle bei Twitter war, für mich und gefühlt, gewaltig! Es wurde protestiert und dieser Protest wurde auch von anderen Medien, zum Beispiel der Frankfurter Rundschau oder Telepolis, wahrgenommen und darüber berichtet. Ich bin dafür sehr dankbar! Auch für die überwältigende Reaktion von nichtautistischen Menschen die unsere Botschaften weiterreichten und unterstützend kommentierten!

Es gibt, im Nachklang, aber auch immer mehrere negative Momente. Zum einen die Medien die einfach Texte von Nachrichtenagenturen unkommentiert übernehmen. Unser Journalismus ist anscheinend schon so weggespart das alles kritiklos übernommen wird was von großen Agenturen kommt. Klar: Es ist einfach, schnell und billig. Für mich fühlt es sich einfach schäbig, schlampig schnell und billig im Ergebnis an! Qualitätsjournalismus geht anders und kostet Geld! Geld das Konsumenten für Qualität sicher gerne bezahlen. Aber das ist ein anderes Thema.

Schlimmer geht nimmer?

Und immer wenn man denkt: Es kommt nicht Schlimmer, ja was passiert dann? Genau: Es kommt schlimmer!

Zum Beispiel in diesem Interview mit Reiner Haller

Ein Gerichtspsychiater wird zum Amoklauf befragt. Was folgt ist u.a. so etwas:

Es sind entweder neurotische, narzisstisch gekränkte Menschen oder solche, die ein Asperger-Syndrom aufweisen, sich also schwer in andere hineinfühlen können, gleichzeitig extrem kränkbar sind.

Man beachte: Das sagt ein Mensch der zum einen sich auskennen SOLLTE und zum anderen für die Gerichtsbarkeit eines europäischen Landes arbeitet. Man muss davon ausgehen, dass genau solche Psychiater zum Beispiel Gutachten über sensible Fälle anfertigen. Mir grauts vor solchen Menschen. Da wundert es nicht das Autismus bzw. das Asperger-Syndrom immer mehr bei Straftaten erwähnt werden!

Eigentlich müsste man die Medien nun schon fast in Schutz nehmen. Was sollen sie machen wenn Fachleute schon Bockmist dabei bauen Grundinformationen zu liefern? Auf irgendwen müssen sich auch Journalisten bei der Recherche verlassen.

Auf Kosten der Schwächsten

Was solche Fehlinformationen und deren Verbreitung in den Medien anrichten können  wurde in den letzten Tagen ja zahlreich beschrieben und diskutiert. Gerade eben wurde ich über Twitter von Senzaphine  noch auf einen weiteren Punkt aufmerksam gemacht der mir noch an keiner anderen Stelle zu diesem Thema aufgefallen ist:

Was hat das für Folgen bei der Inklusion und Beschulung von Autisten in Deutschland? Im schlimmsten Falle entstehen genau durch oben beschriebene Vorurteile und „fachmännische“ Fehlinformationen noch größere Ängste der Lehrkräfte vor der Inklusion von Autisten in Regelschulen. Ängste die sowieso schon durch mangelnde Information und Ausbildung und der damit verbundenen Überforderung entstehen. Etwas das man keinem Lehrer vorhalten kann und darf! Nicht auszudenken wenn diese Panik vor Autismus weiter geschürt wird. Zum einen noch mehr Angst vor Autisten in der Schule, zum anderen mögliche Vorbehalte von Eltern anderer Schüler. Eltern von autistischen Kindern haben es schon unheimlich schwer und müssen für die Rechte ihrer Kinder kämpfen. Soll da noch ein weiterer Widerstand von anderer Stelle hinzukommen? Letztendlich trifft es immer die Kinder!

Eine Lebensaufgabe

Der Schaden der durch diese ganze Panikmache entsteht ist unsäglich groß. Und was bleibt sind wenige Autisten und engagierte Nichtautisten die mit allen Kräften versuchen dagegen vorzugehen und Vorurteile auszuräumen. Eine wahrliche Sisiphusarbeit! Und im Moment sind die Götter dem Sisiphos anscheinend nicht wohlgesonnen.