Der Weg ist das Ziel! Im Leben manchmal schon, in der Schule wohl auch, für mich als Autist eher nicht. Klingt seltsam? Mag sein. Um das zu verstehen müssen wir wohl eine, mehr oder weniger kleine, Zeitreise zurück in meine Schulzeit machen. Genauer gesagt: In den Mathematikunterricht.

Es gibt nur einen Weg

Wenn ich versuche meinen Matheunterricht möglichst objektiv und wertfrei zu beschreiben muss ich wohl schreiben: Aufgabenstellung, Lösungsweg, Lösung. Und da Mathematik von den unterrichtenden Lehrern als streng logisch angesehen wird kann es eben nur eine Lösung geben. Alles andere ist falsch. Leider gehen viele Lehrer noch weiter: Zu dieser einen Lösung der Aufgabe gibt es auch nur einen Lösungsweg. Bequemerweise genau der Weg den man den Schülern vorher mehr oder weniger mühsam beigebracht hat. Ich habe das nie wirklich verstanden. Mir war es mehr oder weniger egal wie ich zur Lösung gekommen bin (abschreiben mal außen vor gelassen!), Hauptsache die Lösung war richtig. Das war für mich das Ziel einer Aufgabenstellung: Diese richtig und möglichst schnell zu lösen. Und hier fing mein Problem mit dem Matheunterricht an: Ich hatte oftmals einfach abweichende Methoden und Wege eine Aufgabe zu verstehen, anzugehen und zu lösen. Wieso das so ist konnte ich mir damals nicht erklären. Wichtig war mir: Das ich einen für mich angenehmen Weg finden konnte die Leistung zu bringen die von mir gefordert wurde. Alles andere tat mir, anders kann ich es wohl nicht beschreiben, körperlich weh. Mir brummte förmlich der Kopf wenn ich mich zwingen musste einen Lösungsweg zu beschreiten und zu beschreiben der nicht der meinige war. Es strengte mich unheimlich an eben einen solchen Musterweg nachzuvollziehen. Und eigentlich war Mathe etwas Leichtes für mich. Zumindest die Lösungen. Der geforderte Lösungsweg brach mir nur allzu oft das Genick in Form von schlechteren Noten.

Ohne Weg keine Lösung

Schlimmer als ein alternativer Lösungsweg war zu meiner Schulzeit allerdings das komplette Fehlen eines solchen. Man könnte auch sagen: Ohne Lösungsweg hat man die Lösung schlichtweg beim Nachbarn abgeschaut! Bei Klausuren hat das unangenehme Folgen weil zumindest die spezielle Aufgabe als ungelöst gewertet wird. Schlechte Noten im Zeugnis haben dann wiederum den Beigeschmack von „der ist für Mathe zu blöd“. Ob die Lösungen in den Klausuren richtig waren oder nicht fragt später kein Mensch.

Ich weiß nicht, ob man als Leser das nachvollziehen kann. Es gibt viele Aufgabenstellungen im Bereich Mathematik bei denen mir die Lösungen quasi im Kopf erscheinen. Ich muss da nicht lange drüber nachdenken. Manchmal sehe ich die Lösung einfach, manchmal erledigt wohl mein Unterbewusstsein schon die Rechnung während mein Bewusstsein noch die Aufgabe liest. Das Ergebnis ist immer das Gleiche: Ich habe eine Lösung. Dummerweise aber keinen Lösungsweg. Und wer einem Lehrer mal gesagt hat, dass die Lösung einfach im Kopf ist wird mich zumindest ein wenig verstehen. Für alle anderen: Lehrer können manchmal schon sehr ungläubig und fast schon mitleidig schauen!

Irgendwann lernte ich dann schmerzlich: Es gibt keinen Weg um den Lösungsweg. Ich musste einen dokumentieren. Für mich ist und war das wie eine sehr ungeliebte Strafarbeit. Strafarbeit auch deshalb, weil die Anstrengung die ich unternehmen musste um den richtigen und einzigen Lösungsweg zu finden, nachvollziehen und zu dokumentieren ungemein hoch sind. Es mag paradox klingen, aber für mich war die Suche nach einem für den Lehrer nachvollziehbaren Lösungsweg eine Aufgabe die mich nur allzu oft überfordert hat. Die Lösung ansich war dagegen meistens ein Kinderspiel.

Wenn man sich als Alien fühlt

Viele Autisten berichten ja davon, dass sie sich auf dieser Welt und in dieser Gesellschaft fremd fühlen. Man könnte auch sagen: Wie ein Alien auf Erden! Genauso ging es mir in meiner Schulzeit. Es ist erschreckend wenn man feststellt, dass man anders denkt, anders fühlt und anders tickt als die Menschen um einen herum.  Schlimm wird es dann, wenn die Mitschüler anfangen einem dieses Denken zu neiden. Man wird zum Streber, Professor, Besserwisser und ich weiß nicht was noch alles. Und so wie ich z.B. nicht verstehen konnte, dass andere Schüler das Ergebnis eben nicht im Kopf hatten, verstanden diese nicht, dass es bei mir so war. Wer sich an seine Schulzeit zurück erinnert wird sich sicher auch an die allseits beliebten Textaufgaben erinnern. Alle haben sie gehasst, viele hatten äußerste Probleme sie zu verstehen. Für mich waren sie letztendlich einfach nur logisch. Damals wusste ich nicht warum, mittlerweile schon. Textaufgaben machten es mir leicht ein Bild im Kopf zu erzeugen. Und da ich vorwiegend in Bildern denke kam mir diese Art von Matheaufgaben sehr entgegen. Das ging soweit, dass ich viele normale Aufgaben für mich in Textaufgaben und Bilder umwandelte um sie besser zu verstehen.

Welche, zum Teil lustige, Auswirkungen diese erlernte Prägung auf einen Lösungsweg hat zeigt vielleicht folgendes Beispiel aus meiner Berufschulzeit:

Wir sollten einen, für mich offensichtlichen und einfachen, Dreisatz lösen. Lösung war mir klar. Ein Azubikollege saß an der Aufgabe und wurde nicht fertig. Warum? Er versuchte einen komplexen Lösungsweg über eine Gleichung mit zwei Unbekannten! Muss ich erwähnen, dass er Mathematik im Abitur als Leistungsfach hatte und mit der Note 1 abschloss?

Die Gedanken sind frei?

Die Gedanken sind frei. Zumindest solange, bis man als Schüler lernt, dass die Gedanken einen vorgeschriebenen und genormten Weg zu gehen haben. Alles abseits davon ist irrelevant und, gemessen in Noten, schädlich. Meine nicht allzu guten Mathenoten haben mir die Suche nach einem Ausbildungsplatz im kaufmännischen Bereich übrigens erheblich erschwert. Wahrscheinlich weil man mich einfach für Dumm hielt wo meine Gedanken einfach nur einen anderen Weg gegangen sind.